Ich sehnte mich danach Gutes zu tun und still zu sein,
denn ich empfand, daß Larm keinesfalls gut ist und
daß das Gute keinen Larm verursacht.
Louis Claude de Saint-Martin
Die Martinisten gehören für Außenstehende wohl zu den Mitgliedern eines der undurchsichtigsten Initiatenorden, nicht nur, weil es bei uns so gut wie keine Literatur über ihre Aktivitaten im deutschen Sprachraum gibt.
Das Wenige, was man über ihr Gedankengebäude in Erfahrung bringen kann, scheint eine Synthese theosophischen und freimaurerischen Gedankengutes zu sein; den Martinistenorden T..M. O. selbst finden wir quasi als Anhängsel des Ordens vom Rosenkreuz A.M. O.R.C.
Wer oder was aber sind die Martinisten?
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zu den Anfängen des Martinismus im Zeitalter der Aufklärung zurückkehren: Mitte des 18. Jahrhunderts, vor der Französischen Revolution, prallen in Frankreich zwei entgegengesetzte Gedankenrichtungen aufeinander: die der intellektuellen "Skeptiker" und die der mystisch orientierten "llluminaten".
Wie wir gesehen haben, verdrängte - vielleicht ähnlich wie heute - der enorme wissenschaftliche Fortschritt dieser Epoche die Religion, die von vielen nur noch als ein Überbleibsel vergangener Tage angesehen wurde, als die Menschheit die Naturphanomene und das Böse, dem sie ausgeliefert war, bestimmten Gottheiten zuordneten.
Das beunruhigte viele Denker, welche die Umkehr des Pendels auf die andere Seite, zum Rationalismus hin, beobachteten.
Unter ihnen finden sich die Mystiker, die man in Frankreich meist als Illuminaten bezeichnet.
Martinez de Pasqually, Begründer des Ordens der Elus Coën
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So tauchte Mitte des 18. Jahrhunderts eine Gestalt aus dem Nebel der Geschichte des Mystizismus in Frankreich auf, um einige Jahrzehnte später in ihm wieder zu versinken: Martinez de Pasqually (1727 1774), einer der großen Mystiker des 18. Jahrhunderts, über dessen Lebensweg wir fast nichts wissen: Sein genauer Name und seine Herkunft haben sich uns nicht gesichert überliefert.
Er wurde wahrscheinlich in Grenoble in Frankreich geboren.
Wir kennen weder seine Kindheit, noch seinen Werdegang.
Französisch war auch nicht seine Muttersprache.
Er trat 1758 an die Öffentlichkeit und wirkte im sudfranzösischen Midi, in Lyon und in Paris als Großsouveran des freimaurerischen Ordens der Auserwählten Priester (Ordre des Chevaliers Maçons Elus Coëns de l'Univers).
1768 begegnete ihm zum erstenmal Saint-Martin, sein späterer Schüler, der ihm später, während seiner letzten beiden Jahre in Frankreich, als Privatsekretär diente.
Am 5. Mai 1772 schiffte sich Martinez de Pasqually nach Port-au-Prince (Haiti) in die Karibik ein und starb dort zwei Jahre später, am 20. September 1774.
Sein Grab konnte bislang niemand auffinden.
Von ihm verblieb nur seine "Abhändlung über die Ruckführung der Wesen (TRAITÉ DE LA RÉINTÉGRATION DE5 ETRES . . .) in verschiedenen Versionen und die Statuten seines Ordens, der jedoch sehr rasch wieder zerfiel.
Den "auserwahlten Priestern" wurde viel zu spät bewußt, daß ihr Meister ihnen nur sehr wenig seines enormen Wissens und seiner Weisheit hinterlassen hatte.
Seine beiden ließlingsschüler Louis Claude de Saint-Martin und Jean Baptiste Willermoz trugen jedoch die Fackel des Martinismus weiter
Was lehrte nun Martinez de Pasqually und was waren die Ziele seines Ordens?
Martinez de Pasqually hatte ein komplexes, aber in sich geschlossenes Lehrgebaude judisch-christlicher Tradition entworfen, das sich die Ruckführung des aus dem Paradies ausgestoBenen Menschen in seine angestammte göttliche Heimat zum Ziel setzte.
Die Ruckführung beinhaltet, daß der Mensch seine Herkunft kennenlernt und sein Ziel erfaßt.
Dazwischen liegen die Verbindungswege zwischen Sturz und erneutem Aufstieg.
Der martinistische Gnostizismus lehrt nun alle die Techniken und die Prozesse, die wir zu unserer Ruckkehr benötigen.
Gemäß dieser Vorstellungswelt haben der biblische Adam und seine Nachkommen ihre Aufgaben mehrmals verfehlt.
So wird der dritte Sohn Adams, Seth, zum Urvater der Theurgen (Magier).
Aus seinen Nachkommen wiederum werden die Priester auserwählt, die Coën élus, Agenten des Göttlichen, um die Verbindung zwischen dem Hochsten Prinzip und dem Materiellen wiederherzustellen.
Sie leben asketisch und folgen einer bestimmten vorgegebenen Lebensweise.
Warum ließ aber Martinez de Pasqually den Zerfall seines Lebenswerkes zu?
Warum mußte er so plötzlich Frankreich verlassen, ohne einen Nachfolger für sein Werk bestimmt zu haben?
Wurde ihm bewußt, daß die Welt für seine theurgischen Praktiken noch nicht bereit war?
Wir wissen es nicht ...
Er hat dem Martinismus seinen Namen gegeben.
Das von politischen und wirtschaftlichen Umwalzungen stark erschutterte Frankreich des 18. Jahrhunderts hielt inne, um seiner Stimme zu lauschen.
"Man hatte ihn nut für einen Sophisten halten können, ware sein Wissen nicht mit dem zarten Mitgefühl und dem tiefen Verständnis eines wahren Menschenfreundes gepaart gewesen.
Louis Claude de Saint-Martin wurde am 18. Januar 1743 in Amboise in Touraine in Frankreich geboren.
Abb. 57: Louis Claude de Saint-Martin
Er war ein schwächliches aber feinfühliges Kind, das sehr früh eine rege Intelligenz zeigte und in Idealen und frommen Gefühlen lebte.
Sie machten ihn später zu einem großen christlichen Mystiker und bedeutenden Illuminaten.
Mit drei Jahren verlor Saint-Martin seine Mutter.
Eine verständnisvolle Stiefmutter förderte seine edlen Gefühle, und Louis Claude verehrte sie aus tiefstem Herzen.
Ihrem und seines Vaters Wunsche folgend, studierte er zunächst die Rechtswissenschaften in Paris, wo er sich auch der Literatur und den schönen Kunsten widmete.
Aber seine innere Berufung zur Philosophie ließen ihn nach seinem Studium nur sechs Monate lang den Beruf des Advokaten ausüben, der seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten nicht gerecht wurde.
So kehrte er 1765 der Jurisprudenz den Rücken und schlug die militarische Laufbahn ein, die ihm anscheinend mehr Müße für seine esoterischen Studien und mystisch en Forschungen anbot.
Sechs Jahre lang diente er als Offizier in Bordeaux.
Durch einen seiner Kameraden aus dem Offizierszirkel kam er mit der Mysterienschule der Elus Coën in Berührung, wobei man ihn 1768 ihrem Großsouverän vorstellte.
Die Ziele des Ordens und sein Lehrinhalt begeisterten ihn so sehr, daß er sich noch im selben Jahr, mit fünfundzwanzig Jahren, nach der notwendigen Vorbereitung und Prüfung in diesen Ritus initiieren ließ und im Lauf der Zeit bis zu dessen höchster Stufe, dem Grad des Réau-Croix, aufstieg.
Zwei Jahre lang richtete er sein Winterquartier im Haus von Martinez de Pasqually ein.
1771 entschloß er sich, die militarische Laufbahn zu beenden, um seinen eigenen Weg besser verfolgen zu können.
In dieser Zeit konnte er seinem Meister als Privatsekretär dienen, wobei sich eine tiefgehende Freundschaft zwischen den beiden Adepten entwickelte.
Nach dem Abschied von Martinez de Pasqually wechselte Saint-Martin seinen Wohnsitz nach Lyon, in seiner Heimat Touraine, und nach Paris, wo ihm der Erfolg seines Erstlingswerkes über IRRTUMER UND WAHRHEIT Zugang zu den Salons der französischen Gesellschaft verschaffte.
Saint-Martin, ein großer Mystiker, bedurfte der theurgischen Praktiken seines Meisters als Werkzeug für die Erhebung auf höhere geistige Ebenen nicht.
Schon früher stellte er deshalb seinem Meister die Frage: "Muß man denn dies alles tun, um Gott zu erfahren?
" Jetzt konnte er sich davon trennen, um den inneren Weg des Herzens zu beschreiten.
Seine Botschaft der Ruckkehr zum göttlichen Ursprung, die er den Suchenden
(Hommes de désir) anonym als Unbekannter Philosoph verkündete, war einfach und beeindruckte alle Schichten der französischen Gesellschaft.
"Die einzige Einweihung, die ich predige und von ganzer Seele suche, ist die, durch die wir in das Herz Gottes eindringen können und durch die Gottes Herz (wieder) zu uns Zugang findet, um eine unauflösliche Verbindung einzugehen, die uns zum Freund, zum Bruder und zum Gemahl unseres göttlichen Heilands macht.
Es gibt keine anderen Mittel, um zu dieser heiligen Einweihung zu gelangen, als mehr und mehr in die Tiefen unseres Wesens hinabzusteigen und nicht aufzugeben, bis wir die lebendige und belebende Wurzel gefunden haben.
58 Jakob Böhme
Um sich mit anderen auszutauschen, reiste Saint-Martin nach dem Weggang Martinez' durch England, Italien und Deutschland und verbrachte 1788/90 drei für ihn sehr bedeutungsvolle Jahre in Straßburg.
Während dieser Zeit lernte er über seine dortigen Freunde, Mme. von Böcklin und Rudolph Salzmann, die Werke Jakob Böhmes, des illuminierten Schuhmachers aus Görlitz, kennen, die seine geistige Entwicklung von Pasquallys "Rückführung" zu Böhmes tief gründender "Weisheit vom Menschen" hinführten.
In Böhmes Werken fand er "die außerordentlichsten und staunenswertesten Mitteilungen über unsere ursprüngliche Natur, über die Quelle des Bosen, das Wesen der Engel der Finsternis, über die des Abfalls der Menschen und die Weise der Wiederherstellung durch die ewige liebe.
" Seine Werke fesselten ihn so sehr, dal; er mit fünfundvierzig Jahren die deutsche Sprache erlernte, nur um seinen "zweiten Meister" im Original lesen zu können.
"Martinez de Pasqually", so sagte er später, "verdanke ich meinen Zutritt zu den höheren Wahrheiten; aber es ist Jakob Böhme, dem ich die wichtigsten Schritte zu diesen Wahrheiten hin schulde.
Die Seelenverwandtschaft der beiden Adepten sollte damals die Geisteshaltung beider Nationen innigst befruchten: So wie Saint-Martin später Böhmes Werk ins Französische übersetzte, so wurde sein Buch IRRTUMER UND WAHRHEIT zuerst von Matthias Claudius 1782 ins Deutsche übertragen.
Grundtenor dieses Werkes ist die gnostische Emanationslehre.
Später erschienen Ubersetzungen von Saint-Martins Werken in Leipzig, Karlsruhe und Munster.
Erstaunlicherweise ließ die Französische Revolution Saint-Martin ungeschoren, so daß er in dieser Zeit ungestört seine zahlreichen Schriften veröffentlichen könnte; darunter: L'HOMME DE DÉSIR (Der Suchende), 1790; ECCE HOMO (Seht, welch ein Mensch), 1792; LE NOUVEL HOMME (Der neue Mensch),1792; später entstanden LE CROCODILE, ou LA GUERRE DU BIEN ET DU MAL (Das Krokodil oder der Kampf zwischen Gut und Böse) 1799; LAURORE NAISSANTE ...(Die aufsteigende Morgenröte) von Jakob Böhme, 1800 und LE MINISTÉRE DE L HOMME-ESPRIT (Der Dienst des Geistmenschen), 1802.
Saint-Martins Schriften wollen nicht nur die menschliche Natur erklären, sondern unser ganzes Wissen in dem einen Prinzip zusammenfassen, von dem der menschliche Geist das Zentrum werden kann.
Fur ihn muß der Mensch den "alten Menschen" ablegen, d. h., sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen und sich nicht (als Homme du Torrent von der Strömung) treiben zu lassen.
Mittels seines Willens muß er über die Stufe des Suchenden (Homme de Désir) dank der göttlichen Vorschung einen "neuen Menschen" in sich gebaren.
Hat er diesen Status erreicht, wird das Sein komplett neu generiert, und in einer zweiten Geburt entsteht der Geistmensch (I'Homme-Esprit), der er zu Beginn der Schöpfung war.
Er wird fortan den Dienst des Geistmenschen auf sich nehmen, den der Unsichtbare ihm nach der Schöpfung anvertraut hat.
Mit seinen ursprünglichen Rechten versehen, kann er an der Ruckführung der Schöpfung in die Einheit mitarbeiten.
Zu Saint-Martins Projekten seiner letzten Schaffensperiode gehörten vor allem auch eine Reihe von Ubertragungen aus dem WerkJakob Böhmes.
Dessen Schriften seinen französischen Landsleuten im Revolutionszeitalter wenigstens auszugsweise zuganglich zu machen, erachtete er als seinen besonderen Lebensauftrag, dem er sich nicht verschließen durfte.
Der französische Schriftsteller Robert Amadou bezeichnet den Unbekannten Philosophen als miRverständenen Theosophen, denn seine Gedankenwelt sei nicht philosophisch sondern theosophisch (und somit gnostisch).
"Wir alle sind der Weisheit beraußt und somit verwaist und bedurfen einer erneuten Verbindung (mit unserem Urgründ).
Wir mussen ... neue Menschen werden.
So wie das (Ur)wissen des Menschen im gesamten Universum eingeprägt ist, so ist auch jede wahre Wissenschaft in allen Sprachen, allen Mythologien und den Traditionen aller Völker enthalten.
Selbst die Heiligen Schriften sind nur spätere Hilfsmittel der (ewigen) Wahrheiten, die in der Natur der Dinge und in der Schöpfungsessenz des Menschen (verborgen) liegen.
Der Mensch ist der alles erklärende Schlüssel aller Dinge und nicht umgekehrt, die menschliche Seele letzter Zeuge.
Zu bewundern und anzubeten ist Privileg des Menschen und Grundlage für seine Verbindung mit der zeitlichen wie der spirituellen (Welt).
Man muß sich mit dem Geistmenschen und der Gedankenwelt beschaftigen, bevor man sich mit den Handlungen befaßt, damit unsere eigene Erkenntnis daraus erwachst, denn alles muß sich selbst zu erkennen geben ...
Der Unbekannte Philosoph verließ diese Welt am 14. Oktober 1803 in Châtenay bei Paris.